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Foto: Elisabeth Gerono

Ich denke, was ich will, und fühle, was ist – Von der Erhöhung der Neuroplastizität und der Erweiterung des inneren Möglichkeitsraumes

Foto: Elisabeth Gerono

Das Thema ist in aller Munde und die Wissenschaft sucht dem Zeitgeist gemäß nach schnellen Möglichkeiten, die Menschen aus den Begrenzungen ihrer oft als leidvoll erlebten ICH-Struktur zu befreien. Ketamin, Psylocibin, LSD oder MDMA halten (wieder einmal) Einzug in die psychiatrische Behandlung. Sie „sprengen“ – wenn es gut läuft – den Weg innerpsychisch sehr schnell frei und ermöglichen neue, die alten Ich-Grenzen auflösende Erfahrungen. Festgefahrene neuronale Bahnen werden aufgelockert, bisher ungenutzte Hirnareale können angesteuert werden. Inhibitorische oder exzitatorische Dauerschleifen, die Weiterentwicklung verhindern, verlieren an Wucht, neue Möglichkeitsräume tun sich auf.

Das klingt verlockend und die in den Fachjournalen publizierten Erfolge scheinen eine Revolution einzuläuten, aber solchen Verheißungen, die auch durch die Pharmaindustrie oder das ungeduldige Selbstoptimierungscredo der in allen Lebensbereichen durchkapitalisierten Neuzeit befördert werden, kann auch mit Skepsis begegnet werden. So drängt sich mir als eher langsam arbeitendem Psychotherapeuten der Gedanke auf, dass wir wieder einmal nicht genau wissen, was wir da tun, und auch hier nicht die Demut aufbringen, die Dinge organisch reifen zu lassen. Das betrifft nicht den einzelnen, schwer depressiv Erkrankten, der eher Ketamin verdient, als dass er mit der Zeit an seiner lähmenden Passivität verstirbt, nein, es geht mir um die neurotische Moderne, um das „Höher, Schneller, Weiter“, das ohne Rücksicht auf (durchaus ausreichend vorhandene) Ressourcen sowie mit einer gewissen Ignoranz gegenüber dem natürlichen Ablauf der Dinge an allen Fronten den Planeten und die Seelen überfordert. Am Ende erscheint mir aus der Beobachtung heraus alles plus minus Null: Die rasante Erhöhung der individuellen Neuroplastizität hat ihren Preis und geht für mein Gefühl ein bisschen zu schnell. Systemische und individuelle Kollateralschäden scheinen vorprogrammiert, auch wenn ich das Grundprinzip, den inneren Möglichkeitsraum zu erweitern, die Menschen an ihre ungenutzten Potentiale heranzuführen und sie dazu zu befähigen, aus dem Kreislauf des Leides ein Stück weit herauszutreten und die Kollision mit der Unendlichkeit zu wagen, unbedingt befürworte.

Und doch plädiere ich an dieser Stelle für Akzeptanz und Demut, besonders im Hinblick auf die zum Leben dazugehörigen schmerzhaften seelischen Prozesse. Gute integrative Psychotherapie zielt meines Erachtens auf eine nachhaltige Erhöhung der Neuroplastizität ab. Der Mut zum Loslassen wird vorsichtig eingeübt, anstatt (möglicherweise noch sinnhafte) Grenzen ad hoc und entritualisiert einzureißen, auch wenn das vordergründig dem Ductus der möglichst schnellen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit widerspricht.

Das Wirkprinzip, fest Geglaubtes aufzulockern, in Frage zu stellen und neue Wege zu gehen, ist immer das Gleiche, ob nun via Tablette, Meditation, Hypnose oder durch psychotherapeutisch begleitete Selbsterkenntnis. Am Ende steht – im besten Fall – der freie Mensch in einer unmittelbar in aller Tiefe erlebten Gegenwart.

Was ist also der beste Weg hin zu mehr Neuroplastizität und zur damit verbundenen Erweiterung des Möglichkeitsraumes? Was können Gesellschaften und Individuen konkret tun, um sich – zum Beispiel – in ihrer Beziehungs- oder Freudfähigkeit zu stabilisieren? Ich glaube fest an die Selbstorganisationstendenz komplexer Systeme, worunter unbedingt auch das Wunderwerk Mensch zu zählen ist. Wir sind Teil der Natur, weshalb die gute Nachricht lautet: Wir müssen gar nicht viel tun. Besser als das Universum aus sich heraus können wir uns beileibe nicht organisieren. In diesem Gedanken steckt viel Zuversicht und Energieersparnis(!). Für eine möglichst gute Passung in das Leben hinein, ist weniger mehr. Es braucht körperliche und mentale Entspannung, ausreichend viel Bewegung, relativierenden Humor, möglichst viel Zeit mit anderen Menschen, unter freiem Himmel und in der Natur sowie viel Achtsamkeit nach innen und außen.

Aktuell arbeite ich wieder vermehrt mit Hypnose, um die Tür zum Raum des Ungenutzten und Instinktiven großzügig aufzumachen und unterstützend darauf einzuwirken, dass die wunderbaren Möglichkeiten jeder einzelnen Seele erblühen können. Kognitive Prozesse (auf Grundlage der evolutionär jüngeren Großhirnrinde) sind bei Organisations- und Lösungsprozessen hilfreich, schränken affektiv jedoch oft ein. Es ist deshalb rat- und heilsam, hin und wieder den Blick ins intuitiv Körperliche, also in die Weisheit der älteren Stammhirnebene zu wagen und den Möglichkeitsraum ganz im Sinne der oben gefeierten Erweiterung der Neuroplastizität weit zu machen. Auch systemische Interventionen wie ein Stuhldialog mit dem Symptom oder andere symbolisierende Externalisierungen sind kreative Wege, um neuronale Bedingtheiten aufzulockern.

Diese beispielhaft genannten Interventionen sollen zu einer natürlichen Herangehensweise jenseits eines rastlosen Anders-haben-wollen ermutigen. Sie skizzieren kein Ziel, sondern eher eine Veränderungen befördernde Haltung, die von Vertrauen, Geduld, Akzeptanz, bedingungsloser Wertschätzung und Liebe geprägt ist.

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